Inklusion ist eine Haltung

Über zwölf Jahre ist es her, dass in Külsheim ein paar Eltern, die eine allgemeine Schule für ihre Kinder mit Behinderung suchten, ein mutiger Schuldirektor, ein Kollege, der immer auf der Suche nach neuen Wegen war, eine Sonderschullehrerin frisch aus dem Referendariat von Praktikumserfahrungen aus Südtirol inspiriert und eine kreative Erzieherin zusammen etwas ausprobierten: Die gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung. Längst sind aus diesen Kindern selbstbewusste junge Erwachsene geworden, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen, und das, obwohl sie in einer inklusiven Klasse waren, wahrscheinlich aber, weil Sie in einer gänzlich heterogenen Klasse leben und lernen durften und dabei Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Gestaltung eines selbstverantworteten und glücklichen Lebens erwerben konnten. Alle Schüler dieser Klasse haben in ihrer Schulzeit erfahren: Inklusion ist ein Haltung.

Nicht nur die Kinder, auch die PAGS Külsheim hat sich in dieser Zeit weiterentwickelt. Aus den Erfahrungen des ISEP (Integratives Schulentwicklungsprojekt) beschloss man: Wenn wir nach unten differenzieren können, können wir das genauso auch nach oben und so entstand durch intensive Beschäftigung mit dem Thema Lehren und Lernen schließlich das „Haus des Lernens“. Weil Schulleitung und Kollegium erkannte, dass für das Lernen auch die Lernumgebung eine wichtige Rolle spielt, wurde die Schule nicht nur im Inneren, sondern auch ihr Außengelände von Lehrern, Eltern, Schülern und vielen Freiwilligen völlig neu gestaltet. Als letztes Projekt entstand das Amphitheater „Theatrum Pagsum“. Für die, die heute an der PAGS leben und lernen, ist es mittlerweile selbstverständlich: Inklusion ist eine Haltung.

In Berlin schreibt eine Frau ein besonders Buch: Lauthalsleben. Darin erzählt sie von ihrer lebenslustigen Tochter Lotte, die im Rollstuhl sitzt, von ihrer Suche nach einer gemeinsamen Welt mit Lotte, vom Kampf um Normalität und vom Umgang der Gesellschaft mit dem Thema Behinderung. Es geht um eine inspirierende Geschichte einer Mutter und ihrer besonderen Tochter, um ihre Sorgen, Wünsche und Träume und eine kluge Auseinandersetzung mit der Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen.

Julia Latscha, so heißt die Autorin, setzt sich mit Fragen des Lebens auseinander, deren Beantwortung jeden von uns täglich beschäftigt:

Lebensträume und Enttäuschungen, Glücksmomente und Abenteuer, Ausgeschlossen-Sein und Verbunden-Sein, Tabus und Offenheit.

Später veröffentlicht sie in der Zeit den Artikel „Inklusion ist eine Haltung“ und schreibt darin „Kinder ohne Behinderung lernen nicht weniger, wenn sie gemeinsam mit Kindern mit einer Behinderung unterrichtet werden. Nur anderes. Und wahrscheinlich mehr fürs Leben.“

Bald ist klar: Die PAGS Külsheim und Frau Latscha sollten zusammenkommen.

Am 20. und 21. Juni war es dann soweit. Die beiden Tage standen an der PAGS ganz im Zeichen der Inklusion.

Am Mittwochmorgen konnten die Lernpartner der Grundschule und der Klassen 5 und 6 eine wunderschöne neue Sprache lernen – die Gebärdensprache. Die Gebärdensprachdolmetscherin Laura M. Schwengber, die sonst die Musik von Tim Bentzko oder die Songs des ESC für Menschen erlebbar macht, die nicht hören können, brachte den Lernpartnern viel Wissenswertes über die Gebärdensprache bei. Geduldig beantwortete sie alle Fragen der Kinder, welche die Gebärden für Wörter sind, die sie unbedingt brauchen – von „Marmelde“, „Pferd“, „Fußballsieger“, über „kuscheln“ bis hin zu „Meine Frisur ist schön“ war alles dabei. Am Ende hatten die Lernpartner nicht nur viele Wörter in einer neuen Sprache gelernt, sondern konnten auch den Song „Hakuna matata“ aus dem „König der Löwen“ in Gebärdensprache, was sie stolz ihren Lernbegleitern und am nächsten Tag sogar Julia Latscha zeigten.

Am Abend war die Öffentlichkeit zur Lesung „Inklusion ist ein Haltung“ von Julia Latscha eingeladen. Den wunderbar lauen Sommerabend eröffnete unsere inklusive Hip-Hop-Gruppe mit einem fetzigen Stuhl-Tanz. Unsere Schulrockband „Rat-6-PAGs“ umrahmte die Lesung mit ihren wunderbareren Songs. Die Lernpartner konnten die besondere Erfahrung machen, wie ihre Musik von Laura M. Schwengber in Gebärdensprache dargestellt wird. Immer wieder sah man die Jugendlichen, wie sie während den Songs vorsichtig zu Frau Schwengber schauten. Gebannt lauschten die Zuhörer Julia Latscha, als sie ausgewählte Stellen aus ihrem Buch „Lautshalsleben“ las. In ihrem Leben begegnen ihr sowohl traurige Momente, als auch Momente voller Glück. Die Lesung wurde eingeleitet mit dem Zitat „Es mag mir geschehen, was will, ich verliere nie die Gewissheit, dass hinter mir Arme geöffnet sind, um mich aufzunehmen.“ Unser Amphitheater mit seiner besonderen Atmosphäre entpuppte sich als sehr geeigneter Ort für eine solche Lesung. Zwischen den Textstellen stellte Frau Boccagno die sehr persönlich interessierten Fragen, auf die Frau Latscha sehr offen antwortete und damit das Publikum berührte. Alles wurde von Laura M. Schwengber in Gebärdensprache übersetzt, was für viele aus dem Publikum eine besondere Erfahrung war. Nach der Pause, in der es erfrischende Getränke und leckere Snacks gab, die Lernbegleiter und Lernpartner zusammen vorbereitet hatten, war schließlich das Publikum gefragt, sich zum Thema „Inklusion ist eine Haltung“ zu äußern.

Auf die Frage, warum Lotte nicht auf einer inklusiven Schule sei, war die Antwort von Julia Latscha „Die PAGS ist nicht in Berlin“ an diesem Abend ein besonders großes Kompliment für uns.

Am Donnerstagmorgen las Julia Latscha nochmals für die Lernpartner der Klassen 7 bis 10 aus ihrem Buch. Diesmal wurde das Gespräch von Tim und Alicia moderiert, die ihre Sache sehr professionell und mit viel Einfühlungsvermögen machten. Die Jugendlichen lauschten gebannt den Worten von Julia Latscha und nahmen an ihrem und an dem Leben ihrer Tochter Lotte teil. Erst zögerlich, dann immer interessierter stellten sie ganz unterschiedliche Fragen, die zeigten, wie intensiv sie sich mit dem Thema auseinandersetzen. Julia Latscha beantwortete die Frage, wie eine inklusive Ferienfahrt aussieht oder was ihre Idee ist, wie Inklusion von Menschen mit Behinderung erreicht werden kann genauso wie die Frage wie sie sich nach der Nachricht, dass ihre Tochter eine Behinderung hat, gefühlt habe oder „Wenn Sie einen Wunsch für Inklusion frei hätten, was würden Sie sich wünschen?“

Welchen Wunsch hatten die Lernpartner am Ende: Julia Latscha soll schon nächstes Jahr wiederkommen und dann auf jeden Fall auch Lotte und Kasimir mitbringen.

 

 

IMG_3232 IMG_3261